Leseprobe, Auszug Kapitel 1

 

„Ist Ihnen das schon öfters passiert?“, fragte mich Jasmin.

Jasmin, was für ein lieblich klingender Name, dachte ich. „Nein“, erwiderte ich, „den Notruf habe ich noch nie benötigt. Es ist heute das allererste Mal.“

So ergaben sich zwischen uns die Worte und ich erzählte ihr ausführlich, wie es zu meiner Misere gekommen war...


Leseprobe, Auszug Kapitel 2

 

Je weiter es auf halb acht Uhr zuging, je unruhiger wurde ich.

Ich hatte ein ungutes Gefühl bei der ganzen Geschichte mit Julia. Ich wusste nicht, was mich erwartete und wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte. Ich nahm mir vor, sachlich zu bleiben. Kurze Zeit später fuhr ich mit meinem Wagen die Bergstraße entlang.

Das war die Straße, an der unser besagter Treffpunkt war.

Die Turmuhr der nahen Kirche schlug gerade zweimal, aber Julia war noch nicht wie verabredet an der Brücke. Sie war nie pünktlich!

Vorsichtshalber sollte man bei Julia immer 15 Minuten Verspätung mit einplanen. Dabei stand mir der Ärger ausdrucksvoll ins Gesicht geschrieben.

Wenige Augenblicke später tauchte sie aus der Dunkelheit im Scheinwerferlicht meines Wagens auf. Sie zog ihren dicken, langen Steppmantel aus, öffnete die Fahrzeugtür und schleuderte den Mantel mit raffiniertem Geschick über die Nackenstütze auf die Rücksitzbank.

Dann stieg sie ein, beugte sich zu mir herüber und drückte mir wie selbstverständlich einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

That’s live, das war Julia.

„Hi, da bin ich“, sagte sie und seufzte tief, als sie ausatmete. „Hallo!“, gab ich etwas verstimmt zurück.

„Warum schaust du mich denn so an?“, fragte sie verwundert.

„Na hör mal, schließlich haben wir uns längere Zeit nicht gesehen und du hast derweil dein Outfit ganz schön verändert. Zu deinem Vorteil, würde ich sagen. Die neue Frisur steht dir gut und du siehst richtig glücklich aus.“

Wow, dachte ich. Dass ich mal nur nicht meinem Vorsatz untreu wurde.

 

Julia hatte so in etwa meine Größe. Einmeterfünfundsiebzig. Eine zierliche Figur, inzwischen lockige, lange, blonde Haare, braune Augen und dunkelrot geschminkte Lippen. Ihre bunt lackierten Fingernägel und das auffallende Augen-Make-up bildeten eine Symbiose mit der eingefärbten Strähne, die sie lässig über die Schulter streifte.

„Was ist nun?“, fragte sie. Fahren wir los? Wir sind spät dran!“

„Ja ja, nun dränge mich nicht. Wir werden schon nicht zu spät kommen …,

       … auch wenn du nicht pünktlich warst.“

Dieses Postskriptum musste ich einfach noch loswerden.

Ich startete den Wagen und wir fuhren über die verschneiten, einsamen Straßen in Richtung Ortsmitte, zum Kino.

Es gab nur ein kleines Kino mit wenigen Sitzplätzen. Keine abgestuften Sitzreihen. So war es manchmal ein Ärgernis, wenn ausgerechnet jemand vor einem saß, dessen Rübe die Sicht versperrte...

 


Leseprobe, Auszug Kapitel 3

 

Aber jetzt war ich zu müde dazu. Viel zu müde, um dieses zu ändern.

Leise flüsterte ich: „Du bist doch immer zu müde. Du willst dir darüber ja gar keine Gedanken machen.“

 

Dann verstummten meine gedämpften Worte. Ich war schon tief entspannt weggenickt und der Schwäche meines Körpers erlegen, als mich ein durch alle Gliedmaßen fahrender, markerschütternder Schrei wieder auf die Erde zurückholte.

Ich riss die Augen auf und musste mich kurz besinnen.

Was war geschehen?

Woher kam der fürchterliche Schrei? Weit und breit war nichts zu sehen und es war wieder still. Nur in einiger Entfernung spielten ein paar Kinder auf der Wiese, die an einen Spielplatz grenzte.

 

Bevor ich noch richtig bei mir selbst war, lief ich völlig aufgeregt, intuitiv und mit überschnellem Herzschlag in die Montagehalle zurück.

„Du liebe Güte!“, rief ich entsetzt, als ich Horst, meinen Kollegen, blutüberströmt sich am Boden wälzen sah.

Er schrie mit greller, ohrenbetäubender Stimme immer wieder: „Mein Arm, mein Arm“, und ließ mich wie bleiern beschwert, nicht mehr von der Stelle kommen.

Fassungslos sah ich in der Fräsmaschine ein abgerissenes Stück seiner Arbeitsjacke hängen, in dem mit Blut getränkt vermutlich das restliche Stück seines Arms zu erkennen war.

Ich spürte, wie sich alles vor meinen Augen drehte, wie mich meine Kraft verließ und meine Beine mein Gewicht nicht mehr tragen konnten...


Leseprobe, Auszug Kapitel 5

 

 Josef starrte auf die Tür der Notaufnahme und sagte kein Sterbenswörtchen. In diskretem Abstand zu uns wartete Peter, der genauso wenig wusste wie wir, was eigentlich der Grund für diese Dramatik war.

Die Minuten, die vergingen, kamen uns unmessbar vor.

Es wäre fast totenstill gewesen, wenn man nicht hinter den verschlossenen Türen der Unfallstation den zappelnden Piepton eines EKGs gehört hätte.

Mal schnell, mal langsam.

War es Julias Herzschlag?

 

Kurze Momente später ging plötzlich die Schwenktür auf und ein großer, dickbäuchiger Arzt in Weiß baute sich mit ernster Miene vor uns auf. Sein Gesicht hatte schon viele Sonnenstunden hinter sich und die Narben darin ließen auf eine leidgeprüfte Vergangenheit schließen...

 


Leseprobe, Auszug Kapitel 9

 

„Hier ist die Rettungsleitstelle, was kann ich für Sie tun?“, dröhnte es überlaut und krächzend aus dem Lautsprecher der Sprechanlage.

Wenn ich mich nicht täuschte, – und ich täuschte mich selten – war es dieselbe rabiate Stimme, die ich zuvor bereits am Telefon vernommen hatte.

Ich beugte mich unter Schmerzen nach vorne und sprach in die Station:

„Hier ist Klaus Bremer, ich hatte vorhin mit Ihnen telefoniert. Der Notruf. Wissen Sie noch?“

 

Einen Moment lang hörte ich nichts, außer dem Verkehrslärm der angrenzenden Schnellstraße, doch dann surrte kommentarlos der Türöffner.

Ich drückte gegen die Tür und schleppte mich in den Flur.

Auch hier ging kurz darauf vollautomatisch die Beleuchtung an und ein Wegweiser an der Wand zeigte mir die Richtung.

Es war ein langer, unbehaglicher, kalter Flur.

Er mutete an wie die seelenlosen Gänge in einer Kaserne.

Der Leidensdruck meiner Schmerzen, den ich durch ein unregelmäßiges, verkrampftes Atmen für mich zum Ausdruck brachte, hallte wider von den weißen, kahlen Wänden dieser Baracke.

Am Ende des Korridors war eine einzige Tür, davor eine Sitzgruppe und ein Tisch mit verschiedenen Zeitschriften. Ein Licht schimmerte durch die Milchglasscheibe des dahinterliegenden Raums und deutete auf den viel mehr belebten Teil dieses Gebäudes hin...